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Chaos sieht anders aus.

28.Januar 2021

ein Gastbeitrag von Dr. Thorsten Kehe MBA, Vorsitzender der Geschäftsführung Märkische Kliniken GmbH

„Zugegeben, die Pandemie ist herausfordernd. Aber ist wirklich das Impf-Chaos ausgebrochen?
Nehmen wir die Lage differenzierend in den Blick.“

Seit Herbst 2019 ist ein Virus in der Welt, wie es das etwa alle hundert Jahre einmal gibt. Vor etwa einem Jahr stellten wir seine Ankunft in Europa fest. Kurz danach erst wissen wir, dass es im Herbst bereits in Italien Menschen als Wirt befallen hatte. Kaum ein Jahr später stehen uns – dank erstklassiger Forscher und Gentechnik – die ersten hochwirksamen Impfstoffe mit geringen Nebenwirkungen zur Verfügung. Weil die Hersteller und die Behörden die komplexen Zulassungsverfahren schon während der Entwicklungsphase der Impfstoffe in Gang gesetzt haben, erhalten die Impfstoffe um die Jahreswende – weniger als ein Jahr nach dem Auftreten des Virus – in vielen Regionen der Welt ihre Zulassung, und die Impfungen beginnen tatsächlich. Nicht in allen Ländern der Welt, aber auch in Europa, in Deutschland und im Märkischen Kreis. Die Wirksamkeit ist so hoch und die Zahl der Nebenwirkungen ist so gering wie erwartet. Das ist ein großartiger Erfolg.

Wer es im Sommer schon besser wusste, hätte es damals sagen müssen
Dass der Impfstoff am Anfang knapp sein würde, sollte allen klar gewesen sein. Denn ihn zu entwickeln ist schon eine große Aufgabe, aber jene, ihn in großen Mengen zu produzieren, ist nicht geringer. Und keiner konnte im Sommer 2020 mit Sicherheit wissen, welche Impfstoffe die ersten sein würden, die zur Verfügung stehen würden. Wer heute sagt, er habe es damals schon besser gewusst, der muss sich fragen lassen, warum er das im Sommer 2020 nicht laut genug gesagt hat, dass er mehr weiß als die Wissenschaftler und Zulassungsbehörden.
Es war auch sinnvoll, den Einkauf als EU gemeinsam zu organisieren, denn ein „jeder gegen jeden“ hätte Zwietracht gesät unter den Mitgliedsstaaten und unsere Aussicht auf Erfolg gemindert. 380 Millionen Einwohner sind eben durchaus eine Einkaufsmacht.

Nach dem Impfstart zum Jahresende 2020 erfahren wir im Januar, dass weniger Impfstoffe geliefert werden, als wir erwartet hatten.
Auch hier gilt es zu differenzieren. Biontech/Pfizer, dessen Impfstoff als erster in Deutschland zugelassen war und den schon mehr als 1,7 Millionen Menschen zum ersten Mal und etwa 350.000 zum zweiten Mal in Deutschland erhalten haben, reduziert die Produktion, um sie zu erhöhen. Wegen Umbauten zur Steigerung der Kapazität wird vorübergehend weniger Impfstoff geliefert. Später dafür mehr. Die Einschränkung wurde unter den Partnern – den Behörden und dem Hersteller – besprochen und begründet.
Anders stellt sich die Lage im Falle des Herstellers Astrazeneca dar. Die EU sagt, statt der vereinbarten 80 Millionen Dosen, für deren Her- und Bereitstellung die EU im Voraus gezahlt habe, werden nur 31 Millionen bis Ende März geliefert. Die Enttäuschung über den Hersteller ist groß, zumal seine Auskünfte gegenüber der EU nur spärlich fließen. Von der Enteignung des Patents war als Reaktion darauf sogar schon die Rede, – eine Drohung, die allerdings dem Innnovations- und Investitionsstandort Europa langfristig nur schaden kann.
Das Unternehmen entgegnet, es habe eine „best effort“ Regelung getroffen. Es habe keine festen Liefermengen mit der EU vereinbart, sondern die Lieferung nach Kräften bis zu einer bestimmten Menge. Und die EU habe eben später bestellt als andere. Zu spät. Die EU wiederum entgegnet, Astrazeneca stelle den Sachverhalt falsch dar.

Empörung allein genügt nicht, um zu urteilen
Die Sache bedarf der weiteren Klärung. (Der Pulverdampf des gegenwärtig ausgetragenen Gefechts vernebelt einstweilen noch die Sicht). Empörung allein reicht nicht, um zu urteilen. Jede Behauptung und jeder Vorwurf müssen beweisbar sein.
Andere – namhafte – Adressen brechen ihre Impfstoff-Entwicklung ab, wieder andere, die als Hoffnungsträger galten, sind lange noch nicht am Markt mit ihrem Präparat.
Impfstoffe zu entwickeln und herzustellen ist etwas anderes als Brötchen zu backen.
Während dessen mutiert das Virus, was eigentlich auch keinen überraschen sollte, denn das gehört zum Wesen eines jeden Virus. Die – nach heutigen Erkenntnissen – ansteckenderen Varianten breiten sich aus. Auch in Deutschland. Im Bayreuther Klinikum befanden sich am Dienstagabend mehr als 3000 Mitarbeiter in der Pendelquarantäne, nachdem dort Fälle mit einer neuen Variante aufgetreten waren. Die Mitarbeiter dürfen nur noch zwischen Krankenhaus und Wohnung pendeln, um eine mögliche weitere Ansteckung anderer Menschen zu vermeiden.

Der Lockdown ist noch nicht vorüber
Diese Vorkehr mag dramatisch klingen, aber sie ist angemessen. Nur so, durch die Vermeidung von Kontakten, können wir die Ausbreitung des Virus – in all seinen Mutationen – ein-dämmen. Es liegt an jedem einzelnen von uns. Insofern ist auch beim Blick auf die Dauer des Lockdowns Realismus angezeigt. Restriktionen sind sinnvoll, bis das Virus möglichst nicht mehr grassiert. Wenn wir zu früh zu locker damit umgehen, wird die Zahl der Infektio-nen exponentiell nach oben schießen. Dann kann sich die Zahl der Infizierten binnen eines Monats mehr als verzehnfachen. Und ein Prozent der Infizierten sterben bisher. Auch bei uns, auch im Märkischen Kreis.

Diese Infektionskrankheit lehrt uns vor allem eines: Demut. Es kann jeden treffen, und wir sollten dem Erreger so gut es geht aus dem Wege gehen. Sie lehrt aber auch Respekt – vor denen, die Tag für Tag helfen (nicht nur im Krankenhaus), und vor denen, die großartige Impfstoffe in kurzer Zeit entwickeln und herstellen.

Täglich erhalten 70.000 Menschen in Deutschland eine Impfung
Wenn Biontech/Pfizer die Kapazitäten in der Fabrik in Belgien erhöht haben und der Impfstoff auch von Sanofi in Frankfurt-Höchst produziert werden wird, wenn andre Hersteller mit ihren Stoffen am Markt sein werden, wenn das Verhältnis zwischen der EU und Astrazeneca eines Tages wieder geklärt sein dürfte, und wenn wir alle bereit sind, eine Fehlerkultur zu entwickeln und zu pflegen, damit wir aus Schaden klug werden, wird auch die Zahl der Impfungen von Tag zu Tag zunehmen in Europa.

In Deutschland erhalten heute schon jeden Tag jeweils 35.000 Menschen ihre erste und ihre zweite Impfdosis. In der Summe werden 70.000 Menschen am Tag gegen Corona geimpft.

In unserem Märkischen Kreis haben die Bewohner in 59 der insgesamt 61 stationären Pflegeeinrichtungen und Hospizen 59 ihre Erstimpfung erhalten. Insgesamt wurden nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe 6.279 Erstimpfungen und 739 Zweitimpfungen durchgeführt.

Vom 1. Februar an nehmen wir auch die Impfung von Mitarbeitern in den Krankenhäusern in NRW wieder auf. Die Dosen für die zweite Impfung werden bis zu dieser aufbewahrt. Die Impfbereitschaft unter den Mitarbeitern und Bewohnern in den Altenheimen im Märkischen Kreis ist erfreulich hoch, während die langsam sinkende Inzidenz zur Entlastung des Gesundheitssystems führt. Und unsere Impfzentren samt Impfteams stehen bereit, um noch mehr Menschen Schutz gegen COVID 19 zu verleihen, wenn das hoffentlich bald möglich werden wird. Ich sehe Licht und Schatten. Chaos aber sieht anders aus.

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21-01-28_Dr.Kehe-Impf